Verborgen im Depot der Göttinger Astrophysik befindet sich ein Objekt, das, sobald es aus seinem „Versteck“ – einem Metallschrank in einem abgeschlossenen Raum – befreit ist, alle Blicke auf sich zieht. Zwar lassen die Bauart und die vielen Verschleißspuren das Objekt sehr alt aussehen. Trotzdem ist die bemerkenswert aufwendige künstlerische Gestaltung des rechteckigen Tubus so reizvoll, dass der wortwörtliche „Kern“ des Objekts – das Binokular – schon fast in Vergessenheit gerät. Gibt es überhaupt eine Möglichkeit herauszufinden, wie es im Inneren aussieht? Von außen ist lediglich erkennbar, dass sich zwei Fernrohre darin befinden müssen und somit binokulares, also beidäugiges Sehen ermöglicht wird.
In der Mitte mit dunkelbraunem Leder, vorne und hinten mit grünem Pergament ummantelt umgibt das Binokular eine mehrteilige, ausziehbare Hülle mit Kappe. Drei verschiedene goldene und vor allem detailreiche Muster mit floraler Ornamentik schmücken die Kanten der Einzelteile. Weshalb wurde ein wissenschaftlich-technisches Objekt so aufwendig gestaltet wie ein Kunstwerk? Wer nutzte ein so wertvolles Gerät? Auf einer Seite verrät die ebenfalls goldene Inschrift „Par le P.(ere) Anian de Paris, Capucin“ den Hersteller: Pater Anian aus Paris. Passend zur floralen Ornamentik der Hülle verkleidet eine kleine Holzplatte, die mit rosafarbenen Rosen bemalt ist, die Okulare auf der Frontseite. Verwunderlich ist, dass diese Platte wahrscheinlich bemalt wurde, bevor sie an das Binokular angepasst wurde. Dies steht im Kontrast zur ansonsten offenbar sorgfältig geplanten Gestaltung des restlichen Tubus. Betrachtet man das Binokular aus der Nutzer*innenperspektive, stellt sich die Frage, wie ein so unhandliches Gerät von 8cm x 16cm x 46cm (ohne Deckel) überhaupt benutzt wurde. Wäre es nicht einfacher, ein Fernrohr mit nur einem Rohr zu verwenden?
Lässt man die Form außer Acht, sollte das Binokular seinen Nutzer*innen dazu verhelfen, Dinge aus der Ferne sichtbar zu machen – ein Wunsch, für dessen Erfüllung auch heute noch Geräte entwickelt werden. Naheliegend wäre es, sich ein zeitgenössisches Binokular anzusehen. Interessanter ist jedoch, ein Gerät zu betrachten, dass zwar metaphorisch denselben Zweck erfüllt, aber ansonsten dem Binokular kaum unähnlicher sein könnte.